Aufenthalt auf dem Mercy Ship Africa
Aufenthalt auf dem Mercy Ship Africa: ein aussergewöhnliches Erlebnis
"Als ich im Mai 2018 zu einem Aufenthalt auf dem in Douala (Kamerun) vertäuten Schiff Africa Mercy der Organisation Mercy Ships eingeladen werde, ist mir etwas bange. Obwohl ich zahlreiche Fotos des Spitalschiffs gesehen habe, schieben sich vorgefasste Vorstellungen in den Vordergrund: ein alter, knarrender Kahn, Seekrankheit, ein überfülltes Spital, das dürftig eingerichtet ist, Patienten mit seltenen und schweren Krankheiten, Malariarisiko, Entführung durch eine Splittergruppe … Trotzdem bereite ich mich auf die Reise vor, die meine Vorstellung von Wohltätigkeit auf subtile Art erschüttern wird. Nach einem angenehmen Flug erwartet mich der Flughafen von Douala. Der Hafen ist nur etwa zwanzig Autominuten in einem grossen Jeep in den Farben von Mercy Ships entfernt. Am Kai angekommen und nach dem Passieren von zwei Checkpoints, ragt das Mercy Ship Africa vor mir auf. Ein riesiges, weisses Schiff – eigentlich eine umgebaute ehemalige Fähre –, strahlend, prächtig, daneben stehen zwei oder drei aufblasbare Zelte, ausgestattet mit medizinischen Geräten, sowie ein langer Unterstand aus Holz, wo einige Patienten in der Abenddämmerung dieses immer noch drückend heissen Tages auf ihre Sprechstunde warten."
Ein einzigartiges Leben auf einem schwimmenden Campus
"Erste Überraschung beim Betreten des Schiffes: ein kühler, sauberer Raum wie auf einem Kreuzfahrtschiff. Die Cafeteria ist riesig, zwei Buffets sind voll mit abwechslungsreichen und auch schmackhaften Nahrungsmitteln. Unten im Schiff werde ich eine Spitaletage entdecken. Die anderen Etagen sehen wie ein riesiger Campus aus, auf dem sich Dutzende von humanitären Helfern, Ärzten, Pflegefachpersonen, logistisches und administratives Personal usw. begegnen. Bei einer ausführlichen Besichtigung des Schiffes werde ich Wohnungen sehen, in denen ganze Familien leben, manchmal seit 15 Jahren, eine Schule vom Kinder- bis zum Gymnasiumniveau, einen mit Computern ausgestatteten Raum, mehrere komfortable Lounges, ein kleiner Swimmingpool auf dem Oberdeck und, surrealistisch anmutend, der einzige Starbucks Afrikas, der mitten im Atrium den ganzen Tag über als Treffpunkt dient. Auf dem Mercy Ship herrscht eine ruhige, freundliche Atmosphäre, in der fast 400 Freiwillige aller Nationalitäten zusammenleben; es ist eine sehr amerikanische Organisation, die gut eingespielt, perfekt geführt und strukturiert ist. Viele der humanitären Helfer, dich ich dort treffe, sind seit vielen Jahren allein, als Paar oder als Familie an Bord des Mercy Ships. Aufgrund ihres Status haben sie auf jegliche Vergütung verzichtet und die mit ihrem Aufenthalt verbundenen Kosten (Unterkunft, Verpflegung) bezahlt. Und sie führen ein einzigartiges Leben: Obwohl ihr Lebensumfeld gleichbleibt – gleicher Arbeitsplatz, gleiches Restaurant, gleiche Nachbarn, gleiche Schule, gleiche Wohnung – ändert sich die äussere Umgebung jedes Jahr, je nachdem an welcher afrikanischen Küste die Africa Mercy anlegt. Ein wahrlich einzigartiges Leben."
Die Schweizer Community: eine eingeschworene und warmherzige Gemeinschaft
"Die Schweizer Community, die bei meinem Besuch rund vierzig Personen zählt, trifft sich, um uns herzlich zu empfangen. Ich bin überrascht von ihrer Aufmerksamkeit und Präsenz. Diese Geste berührt mich, und in diesem Moment spüre ich ein echtes Gefühl der Zugehörigkeit für mein Herkunftsland, ein Gefühl des Stolzes beim Dialog mit Landsleuten, die sich entschieden haben, ihr gutes Leben in unserem schönen Land aufzugeben, um mit ihren Fähigkeiten rund 6600 Kilometer von ihrer Heimat entfernt kranken und mittelosen Menschen zu helfen. Unsere Delegation hatte daran gedacht, Schokolade mitzubringen, die wir geniessen, während wir über das Leben auf dem Schiff und die Gründe, die diese Schweizer dazu bewogen hatten, sich für Mercy Ships zu engagieren, reden. Ich treffe hier mehrere junge Menschen im Alter von 20 bis 25 Jahren, die ihr Praktikum im Rahmen der EHL (Hotelfachschule Lausanne) absolvieren. Ich frage sie nach ihrer Lebensweise. Langweilen sie sich nicht auf dem Spitalschiff? Sie erzählen mir von den Filmabenden, die im Seminarraum mit grossem Bildschirm organisiert werden, wo man auf dem Teppich liegt oder auf bequemen Kissen sitzt, von den regelmässigen Ausflügen nach Douala am Abend, immer in kleinen Gruppen, vom lokalen Markt, den improvisierten Volleyballspielen auf dem Kai, vielfältigen Begegnungen. Einige betonen ihren religiösen Glauben und die Freude, jeden Morgen die Messe zu besuchen, die spielerisch und mit viel Gesang das Atrium durchflutet unter der Regie einer afrikanischen Geistlichen in exzentrischer Kleidung, die sich zu den Essenszeiten gerne zu verschiedenen Tischen gesellt und Interesse an unserem Leben, unseren Zielen zeigt."

Doktor Gary, Symbolfigur von Mercy Ships
"Es ist zweifellos die kleinste, die englischste Enklave, die ich entdecken kann: das Büro von Dr. Gary Parker, besser bekannt als «Doktor Gary». Dieser aussergewöhnliche Chirurg, der durch seine Statur, seine Ruhe und sein Lächeln beeindruckt, lässt einen Hauch von Bewunderung aufkommen, denn sein Engagement ist beeindruckend. Dr. Gary, der einzige ständige Chirurg auf dem Schiff, der ohne Ruhepause komplizierte Kieferoperationen durchführt, lebt seit 30 Jahren mit seiner Familie auf dem Spitalschiff. Als Anerkennung für die rund 400 Eingriffe während dem Einsatz in Kamerun im Jahr 2018 wurde Dr. Gary ausserordentlich als Chevalier de l’Ordre national de la Valeur ausgezeichnet. Um diese Symbolfigur stellen zahlreiche Ärzte aus allen Ländern ihre Kompetenzen in den Fachgebieten Orthopädie, Augenheilkunde, Plastische Chirurgie und Zahnpflege in den Dienst der unterprivilegierten Bevölkerung, die dadurch kostenlos beste Behandlungen erhält. Viele kommen jedes Jahr wieder, so wie Prof. André Mermoud, Augenarzt bei Swiss Medical Network, der sowohl für sein chirurgisches Können bekannt ist wie für sein humanitäres Engagement in Afrika, wo er seit 20 Jahren ehrenamtlich im Einsatz ist und jedes Mal Glaukomoperationen durchführt, die Hunderte von Patienten vor völliger Erblindung bewahren können. Während dem zehnmonatigen Einsatz in Kamerun wird das Ärzte- und Pflegeteam, das aus rund 400 Freiwilligen besteht, an Bord mehr als 13'500 chirurgische Eingriffe durchführen, bei denen 1400 kamerunische Ärzte im Rahmen eines Know-how-Transfers kurze Schulungen erhalten."

"Am Ende dieser Reise ist mein Engagement bestärkt und meine Motivation intensiviert, die Aktivitäten an Bord des Mercy Ships mit Dutzenden von Ärzten, Pflegefachpersonen und Mitarbeitenden von Swiss Medical Network zu unterstützen, die in den kommenden Monaten und Jahren in diese Welt eintauchen und zweifellos durch diese subtile, aber tiefgehende Erschütterung ebenso bereichert werden wie ich es nach diesem aussergewöhnlichen Erlebnis wurde."
Karin Kotsoglou
Manager
Genolier Foundation
Mission durchgeführt im Mai 2018